Antwort A

Die Premiere habe ich verpasst. Da ging es mir wie den meisten. Die erste Ausgabe von Wer wird Millionär? vor zehn Jahren war noch weit davon entfernt, ein großer Erfolg zu sein. Zur zweiten Sendung gleich am nächsten Abend schalteten sogar noch weniger Menschen ein, doch zu diesen gehörte ich jetzt. Und es ging mir offenbar wie den anderen: Ich war gefesselt und wollte die Show unbedingt wieder sehen. Wieder war ich nicht allein. An den nächsten beiden Abenden stieg die Zuschauerzahl kontinuierlich an, und am vierten Abend konnte man von einem echten Erfolg sprechen: Sieben Millionen waren inzwischen zusammengekommen. Hätte die erste Staffel nicht nur vier Sendungen umfasst, wäre die Zahl vielleicht noch weiter gestiegen. Diese Überlegung bewog RTL dazu, fünf Monate später gleich zehn Ausgaben innerhalb von zwei Wochen zu senden, und es funktionierte: Bis zum Staffelfinale stieg die Zuschauerzahl diesmal auf unglaubliche 12 Millionen. Doch dann war wieder für vier Monate Pause.

Noch zweimal verfuhr RTL nach diesem ungewöhnlichen Ausstrahlungsprinzip, und fortan musste sich die Zahl nicht erst auf 12 Millionen steigern, sondern blieb von Anfang an so ungewöhnlich hoch. Wer wird Millionär? war zu einem Ereignis geworden, das selten eintrat, dann aber eine Weile anhielt.

Nicht nur der Senderhythmus, auch der Inhalt der Show war revolutionär, obwohl da doch auf den ersten Blick nur ein Moderator saß und einem Kandidaten Fragen stellte, wie früher in Omas Fernsehen. Darüber hinaus schien es auch noch viel einfacher zu sein, hier Geld zu gewinnen. Auf jede Frage wurden vier Antwortmöglichkeiten vorgegeben, man konnte also notfalls raten. Dann hatte man auch noch drei Joker zur Verfügung, man durfte zum Beispiel jemanden anrufen und einfach fragen. Es gab nicht einmal eine zeitliche Beschränkung. Bei jeder Frage konnten die Kandidaten so lange herumdenken, drucksen, grübeln und umentscheiden wie sie wollten. Es ging noch weiter: Wie in vielen anderen Gameshows konnte man auch hier irgendwann mit dem bis dahin gewonnenen Geld aussteigen, aber bei WWM konnte man sogar noch aufhören, wenn man die nächste Frage schon gehört hatte! Sprich: Wenn man die Antwort nicht wusste, konnte man einfach aufhören und die Kohle mitnehmen. Das hatte es noch nie gegeben! Darüber hinaus gab es noch diese Sicherheitsstufen bei den Beträgen 1.000 und 32.000 Mark, die man, wenn einmal erreicht, sogar behalten durfte, wenn man eine falsche Antwort gab. In dieser Show konnte man eigentlich gar nicht verlieren.

Und trotzdem war sie spannend wie lange nichts. Das lag zum einen an Günther Jauch, dessen unlesbare Gesichtsverrenkungen Titelthema fast aller wichtigen Zeitschriften wurden. Zum anderen an der fehlenden Zeitbeschränkung. Dadurch kam zwar kaum Tempo auf, aber der Nervenkitzel stieg weiter, je länger man Zeit hatte, an der eigentlich vermuteten Antwort doch noch zu zweifeln. Und an risikobereiten Zockern, die eben nicht die Chance nutzten, die Antwort zu verweigern, sondern auf gut Glück rieten und Gefahr liefen, das Geld doch noch zu verlieren. Man konnte mit den einzelnen Kandidaten mitfiebern, denn weil nicht mehrere gegeneinander, sondern immer einer allein spielte, hatte man die Gelegenheit, sie besser kennenzulernen und mit ihnen oder gegen sie zu sympathisieren – und zwar datumsübergreifend. Die Sendung hatte nämlich keinen echten Schluss. Wenn die Zeit um war, wurde mit dem Kandidaten eben beim nächsten Mal weitergespielt. Die Gewinnsumme von einer Million war natürlich auch höher als alles bisher. Millionär konnte man vorher im Fernsehen nicht so einfach werden.

Warum schreibe ich das alles hier auf, obwohl doch jeder weiß, wie diese Sendung funktioniert? Genau deshalb, denn es sagt viel über das Phänomen aus. Jeder kennt diese Sendung, sie ist in der Gesellschaft angekommen wie sonst nur Wetten, dass…? oder die Tagesschau. Vor zehn Jahren war das alles neu und bemerkenswert. Aber schon damals gab es ungefähr tausend Fernsehprogramme, und niemand hätte erwartet, dass im neuen Jahrtausend jemals wieder eine Fernsehsendung auch nur annähernd den Stellenwert von Wetten, dass…? oder der Tagesschau erlangen könnte.

Es war ein Risiko, nach gut einem Jahr der Show ihren staffelweisen Ereignischarakter zu nehmen und ihr einen regelmäßigen Sendeplatz zu geben. Würde der Erfolg anhalten, wenn WWM zur Normalität würde? Und es war regelrecht Wahnsinn, die Sendung nicht nur jede Woche, sondern jede Woche dreimal zur Primetime zu zeigen. Wollte RTL die Show um jeden Preis totreiten? Dem US-Sender ABC ist genau das passiert, als er zur gleichen Zeit die Schlagzahl sogar auf vier pro Woche festlegte. 16 Monate später wurde die Show dort aus dem Abendprogramm genommen, weil sich Amerika bereits sattgesehen hatte.

Vielleicht trug dieser geringe wöchentliche Unterschied dazu bei, vielleicht auch die größere Geduld der Deutschen, dass hierzulande der Erfolg länger anhielt. Noch eher lag auch das an Günther Jauch. Der US-Star Regis Philbin ist ein guter Moderator, aber er reicht nicht an Jauch heran, der das Quiz abwechslungsreich, ausdrucksstark, meinungsfreudig und witzig moderierte, also eben genau nicht so, wie sonst Gameshows moderiert wurden, die mehrmals pro Woche liefen.

Damals war RTL übrigens noch ein kommerzieller Sender und zeigte Werbung. Die erste WWM-Jubiläumssendung heute Abend lief länger ohne Unterbrechung als die regulären Ausgaben überhaupt dauern. Sonst hat sich aber nichts an dem oben Geschilderten geändert. Die Zuschauerzahlen konnten sich natürlich nicht dauerhaft bei 12 Millionen halten, einen gewissen Verschleiß gibt es immer. Aber sie hielten sich viel länger als erwartet so hoch, und sie fielen dann viel langsamer als befürchtet ab. Heute ist noch gut die Hälfte übrig, was immer noch genug ist, um in den Quotentabellen in der Regel oben zu stehen, und was im Schnitt immer noch mehr Menschen sind als damals bei der Premiere.

Auch ich gehöre zu denen, die heute nur noch selten zusehen, weil andere Dinge und Sendungen in den Vordergrund getreten sind. Wer wird Millionär? ist nicht mehr das Phänomen, das es einst war und von dem sich Dutzende Quizshows „inspirieren“ ließen, von denen heute allein noch Das Quiz mit Jörg Pilawa übrig ist. Aber WWM gehört noch immer zum Besten, was im Deutschen Fernsehen läuft – und ist trotzdem Normalität geworden.

Die Jubiläumssendung habe ich gesehen und Spaß daran gehabt. Jauchs Umgang mit den Kandidaten war wieder famos, die Fragen in den oberen Kategorien waren interessant und in den unteren amüsant. Es ist gut zu wissen, dass diese Sendung da ist, wenn mir danach ist.

Die Tageschau würde auch niemand absetzen.

Michael, 11. September 2009, 22:59.

12 Kommentare


  1. Ich stimme durchweg zu – fand die Ausgabe heute aber im Hinblick auf eine Jubiläumsfolge schwach. Wo waren die versprochenen Rückblicke auf die Highlights aus zehn Jahren WWM? Beworbene Überraschungen gabs auch nicht. Dafür unnötigerweise einen Off-Sprecher. Es war nicht schlecht, halt wie immer. Aber gerade das habe ich beim Jubiläum und den Ankündigungen anders erwartet

  2. Wobei sich Jauch aber auch erst in die Sendung finden musste. Am Anfang hat er es ganz schön übertrieben mit seiner Taktik, die Kandidaten auf Krampf unsicher zu machen. Ich erinnere mich noch, wie es bei 500 Mark (sic!) um Boris Beckers Heimatstadt ging und Jauch tatsächlich versuchte, dem Kandidaten „Leimen“ auszureden. Jauchs Geheinis ist, dass er sich für die Antworten und manchmal die Kandidaten wirklich interessiert, während Pilawa das nur spielt.

  3. Hoffentlich setzt sich die Tendenz der letzten Sendung, die Kandidaten offensichtlich zu casten, nicht fort. Die waren alle so wahnsinnig “originell“ und extrovertiert dass sie -zumindest mir- schon nach zwei Minuten auf die Nerven gingen (Die unvermeidliche Nonne in ihrer Tracht war natürlich auch dabei). Das Geheimnis des Erfolgs von WWM sind aber doch solche Teilnehmer, die kein Casting überstehen würden, die auch eigentlich nicht in Fernsehshows gehen sollten, die aber, nachdem sie ihre Anfangsnervosität abgelegt haben, sich als sehr interessante Menschen darstellen und mit Hilfe von Jauch geradezu aufblühen. Dessen Stärke, sich zurückzunehmen und sein Verhalten dem jeweiligen Gegenüber anzupassen gibt der Sendung nun schon 10 Jahre ihren angenehm entspannten Ablauf, was bei Kandidaten, die ausgewählt werden, um eine Rolle in “Schlämmermanier“ runterzuspielen nicht funktionieren wird.

  4. Typisch RTL – die Quoten speziell bei den jüngeren Zuschauern sind rückläufig, also setzt man junge oder besonders hippe Kandidaten in die Show. Könnte der Anfang vom Ende sein – schade!

  5. Außer die ersten etwa fünf Minuten habe ich diese Sendung gesehen. Ich erinnere aber keinen „Off-Sprecher“ (!?) den „Marcel“ erwähnt.
    Ich war auch positiv überrascht, dass es kaum Reklame gab.

  6. @Jeeves: Die Kandidaten wurden zu Beginn in bester Susi-Herzblatt-Manier von einem Off-Sprecher vorgestellt: „Der smarte Detlef ist Poolreiniger und stopft in seiner Freizeit Eichhörnchen aus“. Oder so ähnlich. War tatsächlich etwas merkwürdig.

  7. Dr. Bär: Genau meine Gedanken während der Show gestern. Wenn jetzt auch bei WWM nur noch diese überfröhlichen Casting Ididoten sitzen, gibt es wieder eine Sendung weniger, die ich gucke.

  8. Ich erinnere mich noch an den kläglichen Versuch von Sat.1, die Show zu kopieren. Langweilige Moderatoren, komplizierte Regeln und ein Spielmodus, der überhaupt keinen Spaß machte, weil Risiko immer bestraft wurde.

  9. @Michael: Sehr schön geschriebener Artikel, der sehr gut diese einzigartige Faszination der Sendung rüber bringt. Schön wäre es vielleicht, wenn ihr ähnlich wie bei den Nachmittags-Talkshows eine Zeitleiste machen würder, wo man sieht, wie lange sich diese ganzen Trittbrettfahrer-Shows gehalten haben. Die Meisten waren ja doch ziemlich kurzlebig (Ca$h, Multimillionär), andere hatten sich einigermaßen lage halten können (Die Quiz Show, Jörg Pilawa). Wäre sicherlich interessant.

    Allerdings muss ich zu der gestrigen Show der Runde hier zustimmen, dass diese gecasteten „Freaks“ ziemlich überflüssig waren. Einer der Gründe für den Reiz der Show ist doch gerade, dass es eben keine Freak-Show ist, sondern ganz normale Leute zu Stars werden. Für Freaks und Prolls gibt es gerade bei den Privaten nun wirklich genug andere Selbstdarstellugs-Formate. Hoffentlich war das eine einmalige Sache.

  10. ….. da erinner ich mich an „Der Schwächste fliegt“, eine der schlimmsten Auf-Den-Quizshow-Zug-Aufspringen-Woller… 🙂

    Danke für den Artikel Michael, toll.

    Und ja, den Off-Sprecher gab es, ich fands auch komisch, aber gar nicht mal schlecht. Hab aber danach mit jemandem darüber gesprochen, der den auch gar nicht wahrgenommen hat und erst nachdem ich es erwähnte sich wunderte „ach ja das macht ja normalerweise der jauch…“

  11. @ Daniel
    Der schwächste fliegt startete zwar damals, als nach dem Erfolg von WWM die Quizshows aus dem Boden schossen, aber war ein ganz anderes Kaliber. RTL2 hatte den Fehler gemacht, die auch heute noch in GB sehr erfolgreiche laufende Sendung „The weakest Link“ 1:1 zu kopieren und hat nicht bedacht, dass Sonja Zietlow keine Anne Robinson ist und ihre demütigende Art für die Briten der Thrill bei der Show darstellt, während man in Deutschland damit absolut nichts anfangen konnte. Zumindest nicht die lohnende Menge an Zuschauern 😉

  12. WWM ist nichts anderes als eine Variante von Unterschichtenfernsehen. Was bitte soll daran ‚revolutionär‘ sein? Einer stellt Fragen, der Andere versucht richtig zu antworten. Das ist schon sehr revolutionär.



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